Segen auf der Schwelle (Gen 12,1-4)

Zu Gen 12,1–4a als Predigttext für den 5. Sonntag nach Trinitatis am 1.7.2018

Detlef Dieckmann

„Da ging Avram…“ Ist es nicht erstaunlich, dass Avram überhaupt losgezogen ist? Es gab keinen Krieg, er musste nicht hungern, niemand hat ihn verfolgt, es gab kein Erdbeben, dort, wo er war. Jedenfalls berichtet der biblische Text von keiner solchen Not. Anscheinend macht sich Avram nur deswegen auf den Weg, weil Gott ihn dazu auffordert:

1 Und ADONAJ sagte Avram:
Geh für dich
aus deinem Land
und aus deiner Verwandtschaft
und aus deinem Elternhaus.
Hin zu einem Land,
das ich dir zeigen werde.

Wir wissen an dieser Stelle in Gen 12,1 noch so gut wie nichts über Avram. Und wir wissen auch nicht, was Avram über Gott weiß, der hier mit dem unaussprechlich-unübersetzbaren Eigennamen JHWH bezeichnet wird, in meiner Übersetzung wiedergegeben mit der biblisch-jüdischen Ersatzlesung Adonaj („meine Herrschaften“). Adonaj stellt sich nicht vor. Hätte es nicht nahegelegen, dass Avram fragt, wer da spricht und was genau der möglicherweise noch Unbekannte wo genau mit ihm vorhat? Oder kannten sich Avram und Adonaj schon länger? Überhaupt: Woran erkennt man denn die Stimme Gottes und unterscheidet sie von den vielen anderen Stimmen, erst recht in einer solch entscheidenden Situation?

Dieser Gott mutet Avram einiges zu. Aus seinem Land soll Avram herausgehen. Das ist Avram zwar schon gewohnt, denn er hat bereits seine Heimat Ur in Chaldäa, dem späteren Babylonien, verlassen (11,31), um mit seiner Familie nach Charan zu gehen – eine Zwischenstation, wie sich jetzt herausstellt. Aber nun soll Avram wieder aufbrechen und weitergehen und sogar seine Verwandtschaft verlassen. Nur Lot will offenbar mitziehen, wie sich später in V. 4 zeigt, und Avrams Frau Saraj zieht selbstverständlich auch mit – für die Erzählstimme derart selbst-verständlich, dass Saraj in diesen Versen gar nicht erwähnt wird. Nicht nur seine weitere Verwandtschaft soll Avram hinter sich lassen, sondern auch die engere Familie, „das Haus deines Vaters“ wie es im hebräischen Text wörtlich heißt.

„Geh für dich“ (lech-lecha), hört Avram von Adonaj. Nur ein weiteres Mal in der Hebräischen Bibel, nämlich im Kontext einer anderen, besonders dramatischen Zumutung erscheint diese Wendung: nämlich dort, wo Gott Avraham auffordert, seinen Sohn zum Opfer zu bringen (22,2). Letztlich bleibt unklar, was „lech-lecha“ bedeutet. „Geh für dich“ kann heißen: geh vor dich hin, Schritt vor Schritt, es wird sich alles finden und fügen, sorge Dich nicht um das Ziel. Es kann auch heißen: Geh zu deinem eigenen Nutzen und Wohlergehen.[1] Was nicht selbstredend ist, denn auszuwandern bedeutet nicht nur, alle soziale Bindungen hinter sich zu lassen, sondern die Unsicherheit zu wählen, die Gefahren des Weges auf sich zu nehmen, auf Gastfreundschaft angewiesen zu sein, seine Existenz aufs Spiel zu setzen.

Doch all dies kommt gar nicht zur Sprache. Stattdessen eröffnet Adonaj dem Erzvater plötzlich eine geradezu unglaubliche Perspektive:

2 Ich werde dich zu einem großen Volk machen.
Ich werde dich segnen.
Ich werde groß machen deinen Namen.
Sei ein Segen.
3 Segnen will ich, die dich segnen;
die dich geringschätzen, werde ich verfluchen,
so dass durch dich gesegnet werden
alle Familien des Erdbodens.

Nicht auf dem Weg umkommen soll der noch kinderlose, 75 Jahre alte Avram mit seiner unfruchtbaren Frau, sondern zu einem großen Volk werden. Vielfältigen Segen verspricht ihm Adonaj. Wenn er Avram zusagt, er werde seinen Namen groß machen, dann liest sich das wie eine Umkehrung der Turmbaugeschichte im vorangegangenen Kapitel, Gen 11: Dort hatten die Menschen versucht, sich selbst einen großen Namen zu machen und ihre Vorhaben in den Himmel wachsen lassen. Als sie dann noch versuchten, ein System mit einem Volk und einer Sprache zu errichten, hat Gott dem gewehrt, indem er Volk und Sprache zerstreut und verwirrt und damit wieder die Vielfalt des sozialen Lebens hergestellt hat. Hier in Gen 12 ist es in mancher Hinsicht umgekehrt: Hier geht die Initiative von Gott aus, der einen Menschen auswählt, um ihn und seinen Namen in der Welt groß zu machen. Nicht damit es nur noch ein einziges Volk mit einer einheitlichen Redeweise gibt, sondern damit alle Völker, alle „Familien des Erdbodens“ Anteil an seinem Segen haben. Um einen Universalismus des Segens geht es Gott in Gen 12,1–4 also, der zwar allen Menschen zugutekommt, aber so, dass sie gerade nicht ein Volk werden müssen, sondern unterschiedlich bleiben dürfen, Angehörige jeweils ihres Volkes, ihrer Familie.

Segen, das heißt fruchtbar sein, haben wir in Gen 1,28 gelernt (vgl. 1,22); Segen heißt, jene Nachkommen zu haben, die Avram und Saraj bis hierhin versagt blieben. Segen heißt hier im Besonderen, dass Avram und Saraj eines fernen Tages, den sie nicht mehr miterleben werden, zu einem großen Volk werden, dem Volk Israel. Segen kann auch Aussondern bedeuten, so wie Gott den siebten Tag als den Ruhe-Tag, als Schabbat von den anderen Tagen unterschieden und geheiligt hat (2,3) – auch Avram wird hier eine besondere Rolle zugewiesen. Zunächst hatte Gott die ersten beiden Menschen gesegnet (vgl. 5,2), dann Noah (9,1), der – wie als Antwort – Gott mit einem Segenswort anruft (9,26): „Gesegnet sei der Herr…“ (baruch Adonaj). Offenbar können auch Menschen Gott segnen, ihm Gutes wünschen, als wollten sich dadurch unter seine lebensfördernde Macht wie in einen warmen Sommerregen stellen.

Hier in 12,3 ist das erste Mal davon die Rede, dass ein Mensch selbst ein Segen sein und andere segnen kann. „Sei ein Segen“ (häjeh vracha) – diesen Satz kann Avram als Zuspruch wie als Anspruch hören: „Sei ein Segen“, wenn du deine Heimat verlässt und Neuland betrittst, es soll dir gut gehen, wenn Du ins Ungewisse ziehst. Und: „Sei ein Segen“, man könnte auch übersetzen: „werde ein Segen“ für diejenigen, denen du begegnest, auf dem Wege oder in dem Land, in das du kommst. Dass dieser Segen auch eine komplexe soziale Größe ist, macht der nächste Satz deutlich: Adonaj verspricht diejenigen zu segnen, die Avram segnen. Und umgekehrt werde er diejenigen verfluchen, die Avram und/oder seine Nachkommen „leicht nehmen“ (hebr. qalal), d.h., geringschätzen oder verachten. Von dem Verhalten der Menschen gegenüber Avram hängt also ab, wie es ihnen selbst ergehen wird.

Das Ziel ist aber, „dass durch dich gesegnet werden alle Familien des Erdbodens“, sagt Adonaj dem Erzvater. Darin lässt sich sowohl die Aufforderung als auch die Zusicherung heraushören, dass Avram in ein segensvolles Verhältnis mit den „Familien des Erdbodens“ aus den anderen Völkern kommen soll bzw. die anderen Völker sich ihm und seinen Nachkommen dem entsprechend verhalten werden.

An zwei Stellen ist dieser Satz besonders bedeutungsoffen: Zum einen ist die Frage, was es bedeutet, wenn Gott Avram sagt: „durch dich“ (becha) werden die Familien des Erdbodens Segen erlangen, denn die Präposition be mit dem Personalsuffix der zweiten Person singular -cha lässt sich auch übersetzen als: „mit dir“ oder „in dir“. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, das Verb barach im Stamm Nif’al entweder reflexiv oder passivisch zu übersetzen: es „segnen sich“ alle Familien des Erdbodens, oder sie „werden gesegnet“. Damit changiert dieser Satz zwischen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, die einander überlagern. „Durch dich werden alle Familien des Erdbodens gesegnet“ kann heißen: Werde ein Segen bzw: Du bist ein Segen, indem du sie segnest! Dadurch werden sie zugleich „mit dir gesegnet“. „Durch dich“ oder „mit dir segnen sich alle Familien des Erdbodens“ könnte bedeuten, dass Menschen aus allen Völkern einander segnen, indem sie den Namen Avrams oder seiner Nachkommen nennen. „In dir werden sie gesegnet“ oder „in dir segnen sie sich“ würde sogar heißen, dass Avram, seine Nachkommen und die Menschen aus den anderen Völkern eine „Segens-Gemeinschaft“ bilden. Somit ist noch nicht ganz klar, wie sich Gott diesen Segen zwischen Avram, Saraj sowie deren Nachkommen und den Völkern vorstellt. Vielleicht ist diese Polyvalenz auch einzig sachgemäß, weil bei diesem ‚sozialen Segen‘ schwer zu unterscheiden ist, wer aktiv und passiv ist und welche Rückwirkung das Geben hat.

Für den Zeitpunkt, als Avram losgeht, mögen diese Aussagen über den Segen noch recht abstrakt klingen. Doch wenige Verse später wird die Frage, wie Avram in ein segensreiches Verhältnis mit den Völkern kommt, auf der Erzählebene konkret. Denn in 12,6 wird Avram jenes Land verheißen, das schon von den Kanaanäern bewohnt ist – wie sollen die Segens-Verheißung und die Land-Verheißung da zusammengehen?

Die gesamte Avraham-Geschichte in Gen 12ff. und auch die seines Sohnes Jizchak lässt sich als eine Serie von Erzählungen lesen, in denen der Segen zwischen Avraham, seinen Kindern und den anderen Völkern immer wieder nicht gelingt: Als Avram mit seiner Frau Saraj wegen einer Hungersnot nach Ägypten zieht, und er sie aus Angst um seine eigene Haut als seine Schwester ausgibt und dem Pharao preisgibt, wirft ihn der Pharao wütend aus dem Land, nachdem der den Betrug entdeckt hat (12,10–20). Als der Erzvater denselben Fehler bei Avimelech in Gerar wiederholt (Gen 20), und Avimelechs Leute mit Avrams Hirten um die lebenswichtigen Brunnen streiten (Gen 21), endet die Begegnung ebenfalls im Unfrieden. Erst Avrams Sohn scheint dem Segen mit den Völkern etwas näher zu kommen, als (derselbe oder ein anderer) Avimelech, ein ‚Heide‘ aus den Völkern, Jizchak zuspricht: „Du bist nun der Gesegnete Adonajs!“ (Gen 26,29) – und Frieden entsteht. Damit ist etwas von der Segens-Verheißung in Gen 12,3 in Erfüllung gegangen. Und gleichzeitig steht der Segen mit allen Familien der Erde noch aus – das gilt nicht nur für die Erzählebene im Buch Gen, sondern auch für die Kontexte, in denen diese Erzählung vermutlich entstanden ist bzw. mit einiger Wahrscheinlichkeit rezipiert wurde. In der literargeschichtlichen Forschung wird dieser Text häufig in die Königszeit datiert, könnte aber auch in der Zeit des Exils mindestens bearbeitet worden sein. Für die Menschen, die sich im babylonischen Exil fragten, ob sie wie Avram aus Mesopotamien ausziehen und in „das“ Land gehen sollten, werden die Verheißung eines großen Volkes und des Segens im Land einen besonderen Klang gehabt haben: Werden sie im Land wieder zu einem angesehenen Volk werden? Wird das Verhältnis zu den Menschen im Land friedvoll sein? Sollen sie überhaupt zurückziehen oder nicht lieber im Exil bleiben, wo sie sich möglicherweise gut eingerichtet haben? Gerade weil der Text sich vollkommen über Avrams Gedanken, Sorgen und Hoffnungen ausschweigt, kann Avram zur Projektionsfläche für alle Menschen werden, die sich im Übergang befinden.

Adonaj segnet Avram kurz vor diesem Übergang. Und dann heißt es:

4 Da ging Avram, wie ihm Adonaj gesagt hatte.

In diesen Nachsatz lässt sich alles hineindenken, was Gott im Vorhergehenden verheißen hat.

Gott segnet einen Menschen ‚auf der Schwelle‘ zu einer neuen Lebensphase, zu einem neuen Leben, einer neuen Existenz, im Moment des Nicht-mehr und des Noch-nicht, die Vergangenheit im Rücken und die Zukunft vor sich wie ein unbekanntes Land, im Übergang zum Ungewissen, aber Verheißenen. Er segnet ihn als Zuspruch für die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, beruft ihn zum Segen. Er verschweigt nicht, dass andere ihn möglicherweise geringschätzen und hält gleichzeitig an der Vision fest, dass er und alle, die aus ihm hervorgehen, mit „allen Familien der Erde“ im Segen und in Frieden zusammenleben.

Literatur: Magdalene Frettlöh, Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh, 5. Aufl. 2005 (1. Aufl. 1998), besonders S. 173–302; Martin Leuenberger (Hg.), Segen, Tübingen 2015

Dr. Detlef Dieckmann ist Privatdozent für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und Rektor des Theologischen Studienseminars der VELKD in Pullach bei München


[1] So Raschi z.St.

[leicht bearbeitete Fassung der Erstveröffentlichung: Segen auf der Schwelle. Zu 1. Mose 12,1–4a als Predigttext für den 5. Sonntag nach Trinitatis am 1.7.2018. In: Junge Kirche 79,2 (2018), 56–58]